Bd. 22 Nr. 87 (1992): Nationalismus am Ende des 20. Jahrhunderts

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Nicht weniger als das Ende des osteuropäischen Sozialismus überrascht die Intensität der allerorts aufbrechenden nationalistischen Konflikte. In Europa, dem Ausgangsort der 'Universalgeschichte', galt die mit dem Zeitalter der Französischen Revolution eingeleitete Konstitution von Nationalstaaten spätestens seit dem 2. Weltkrieg als abgeschlossen. Ein blutiger Prozeß, immerhin aber schien nach 1945 Gewalt als Mittel zur Veränderung staatlicher Grenzen für alle Zeiten diskreditiert. »Unser Vaterland heißt Europa«, lautete die Reaktion vieler Deutscher auf die nationalsozialistische Katastrophe. Die aus der Eskalation militärischer Gewalt und aus dem deutschen Rassenwahn gezogene Lehre bestand darin, die Gefahr künftiger Kriege durch die politische Einigung Europas zu entschärfen - auch wenn daraus, nach Beginn des Ost-West-Konflikts, zunächst nur die westeuropäische Integration wurde. Zwar galt in allen westlichen Ländern das »nationale Interesse« nach wie vor als höchster Wert staatlicher Politik. Nationalistische Bewegungen im engeren Sinn wurden jedoch eher als Gefahr für die parlamentarische Demokratie eingeschätzt. Immerhin hatte die westdeutsche Politik, auch wenn dazu zweieinhalb Jahrzehnte erforderlich waren, im Zuge der Ostpolitik gelernt, die bestehenden Grenzen aller Staaten in Europa, das hieß insbesondere auch die Polens, als unverletzlich anzuerkennen. Die westliche Linke dachte ohnehin in universalistischen Kategorien und sympathisierte allenfalls mit den »nationalen Befreiungsbewegungen« in der Dritten Welt.

Veröffentlicht: 1992-06-01